Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Fred
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Re: Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Beitrag von Fred »

Manfred hat geschrieben: 20.06.2018, 14:50
Darin liegt ein häufiger Irrtum der Wissenschaft.
Was du beschreibst funktioniert sehr gut in nicht komplexen (aber beliebig komplizierten) Systemen, wie eben beim Maschinenbau.
Da kann ich die Aufgabe in einzelne Abläufe zerlegen und diese von den jeweiligen Fachleuten analysieren und mir entsprechende Lösungen entwickeln lassen.

Dieses mechanistische Wissenschaftsbild auf komplexe Systeme zu übertragen, funktioniert aber nicht.
Das würde ich auch nie behaupten. Ich habe das nur als Klarstellung auf die Frage ob ich nicht systemisch statt systematisch gemeint habe so ausgeführt. Natürlich sind gerade in der Natur in Ökosystemen die meisten Fragen solche, die nur systemisch adäquat bearbeitet werden können.
Vieleicht war mein Disclaimer mit dem *Geltungsbereich* nicht deutlich genug.

Dennoch gibt es auch andere Forschungsbereiche, wo dies nicht so zutrifft, und auch mal isoliert gearbeitet werden kann. Und leider gibt es viele Beispiele wo da nicht darauf geachtet wurde, und isoliert gewonnene Ergebnisse in unzulässiger weise verallgemeinert wurden. Wie z.B. die von dir genannte grüne Revolution.


Fred
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Re: Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Beitrag von Fred »

Viktualia hat geschrieben: 20.06.2018, 16:46
So gesehen ist das Jena-Experiment natürlich ein Fortschritt gegenüber Versuchen im Labor, aber halt trotzdem nur ein Ausschnitt einer deutlich komplexeren Welt.
Den Eindruck hatte ich auch. Bestes Beispiel fand ich diese Dächer, winzigklein im großen Feld, bremsen sie zwar Regen, aber nicht den Tau aus, von Kondens- und abfliessendem Wasser ganz abgesehen.
Beim betrachten von den Dächern musste ich auch schmunzeln, und habe mir überlegt, ob man den Experimentatoren dort mal erzählen sollte, über welche Distanzen Wasser und Nährstoffe im Boden über das Pilzmycel transportiert werden..
Manfred, beim ersten Abschnitt dachte ich noch: aber schön, dass "systemisch" ja "systematisch" nicht in dem Maße ausschliesst, wie umgekehrt.
Zwischen systemisch und systematisch sehe ich keinen Widerspruch in irgendeiner Form.
Systematisch bezieht sich auf die Arbeitsweise der Forscher. Daß man planvoll vorgeht um am Ende dokumentierte, belastbare und reproduzierbare Daten zu erhalten.

Systemisch/ganzheitlich oder isoliert ist dann eine Frage der Betrachtungsweise/Fragestellung bzw. des untersuchtes Objekt, welche Betrachtungsweise sich im jeweiligen Fall anbietet bzw. erforderlich ist.
Um wissenschaftlich Aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, ist in beiden Fällen systematisch, d.h. mit System zu arbeiten, sonnst ist am Ende meist alles "für die katz", weil irgendwo unvollständig.

Sehe ich mir z.B. die Beobachtung am Zuckerhut letztes Jahr an, so war dies eine reine Zufalls-Beobachtung, die ich dann dokumentiert habe. Wissenschaftlich ist daran jetzt noch nichts, drum habe ich mich nicht getraut das als "Versuch" zu bezeichnen. Die ersten Bilder hatte ich nur gemacht um festzuhalten, ob die Setzlinge in dem lockeren Bodengefüge so gut wurzeln können, daß sie beim Anwachsen nicht beheligt werden.

Würde man jetzt näher untersuchen wollen, ob zwischen Trockenstress und Schneckenangriff ein belegbarer Zusammenhang besteht, müsste man dafür systematischer vorgehen, und einen Versuch planen, in dem man jeweils mehrere Pflanzen kontrollierbar verschiedenem Ausmaß an Trockenstress aussetzen kann. Wie man diesen messen und dokumentieren kann, und dazu paralell Schneckenfraß dokumentiert, sowie die ganzen Umwelteinflüsse... Kann man dies dann mehrfach wiederholen, und bekommt dabei dann reproduzierbare Ergebnisse, kommt man langsam in den Bereich der Wissenschaftlichkeit.


Viktualia
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Re: Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Beitrag von Viktualia »

Entschuldigung, dass ist so gut wie o.t., aber "Beobachtung am Zuckerhut" hat mich an folgendes erinnert:
Beobachtung am Berg


Manfred
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Re: Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Beitrag von Manfred »

Viktualia hat geschrieben: 20.06.2018, 16:46 das Systematische in der "normalen Wissenschaft" muss ja immer bis ins totale Extrem gehen. Also "wahr" ist es nur, wenn es sich ewig nicht verändert.

"Wahr" ist außer in der Mathematik in den meisten Wissenschaften ein schwieriger Begriff.
Es geht ja darum, Modelle zu entwickeln und diese schrittweise immer mehr zu optimieren, bis sie das Beobachtete mögl. gut beschreiben.
Da bleibt immer eine gewisse Unsicherheit, ob das Modell nicht zukünftig weiter optimiert werden muss.


Bei komplexen Systemen, also solchen, die selbstregulierenden sind und meist auch eine unüberschaubare Zahl von Variablen haben, ist es per Definition nicht möglich, ein Modell zu enwickeln, welches ihr Verhalten allumfassend beschreibt.
Natürlich hilft es, mögl. viele Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu verstehen, aber ein vollständiges Verständnis und eine Kontrolle über alle Variabeln werden wir nie erlangen.
Deshalb bleibt nur ein adaptives Management, das seine Wirkung ständig selbst hinterfragt und entsprechend nachreguliert.

Deshalb sind bisher auch alle Versuche gescheiert, die Erfolge des Holistic Planned Grazing mit irgendwelchen simplen Rotationsweidesystemen zu reproduzieren.
Die einzige Möglichkeit so etwas zu modelieren ist, sich einen erfahrenen Praktiker zu suchen, mit diesem zusammen einen Kontext festzulegen, auf den zugearbeitet werden soll, und ihn dann machen zu lassen und mögl. genau zu beobahten, wie er auf welche Herausforderung reagiert und das und die jeweilige Wirkung mögl. genau zu dokumentieren.
Und am Ende des Experiments misst man den Erfolg dann daran, inwieweit es sich dem vereinbarten Kontext genähert hat.

Nach und nach kann man so evtl. ein Modell entwickeln, das eine Reihe von Variablen halbwegs gut abdeckt. Dass ist es ja, was man als HPG Praktiker je nach angestrebtem Kontext auch macht. Man lernt für Tocken- oder Nässezeiten Reserven vorzuhalten, man lernt das Risiko von Buschbränden einzuplanen, das von Marktpreisschwankungen, den Schutz verschiedener Wildtierarten (z.B. den von Bodenbrüterhabitaten zur Brutzeit) und Pflanzenarten, man lernt gezielt oder mit absichtlicher Zufälligkeit Störungen zu erzeugen um die für viele Arten nötige Dynamik im Biotop zu schaffen, man lernt die Umtriebszeiten an die Wachstumsgeschwindigkeiten der Pflanzen anzupassen usw. usw.
Aber wenn man dann unerwartet Ärger mit der Schwiegermutter hat und das die schöne Planung durcheinander würfelt, muss man halt wieder reagieren und adaptieren.
Zeig mir mal ein wissenschaftliches Beweidungsmodell, das Ärger mit der Schwiegermutter mit einplant. Und das ist noch eine relativ wahrscheinliche Variable.

Und dann gibt es tatsächlich Leute, die wollen das mit einem starren Rotationsweidesystem simulieren, bei dem eine Herde stur jedes Mal nach x Tagen auf die jeweils nächste Koppel getrieben wird, und die dann behaupten, HPG funktioniere nicht. Dabei hat ihr Modell mit HPG nicht das Geringste zu tun, da es die strenge Ausrichtung an einem Kontext und die ständige Rückkopplung und Neuplanung und Adaption, von der HPG lebt, komplett ignoriert.
Man könnte höchstens sagen, ihr (sehr verkürzter) Kontext war, die Herde alle 5 Tage umzutreiben, und das haben sie am Ende des Versuches auch erfolgreich umgesetzt. Dann müssten sie ihren Erfolg aber auch daran messen, und nicht an der Veränderung der Bodenbedeckung oder des Humusgehaltes oder... Denn diese Ziele waren in ihrem Kontext nicht berücksichtigt, sonst hätten sie die Bewegungen und Dichte der Herde ständig an die dafür nötigen Faktoren (gezielte Störung, um die Keimung zu fördern, keine Überweidung, um die Pflanzen nicht zu schwächen, keine Rückkehr vor vollständiger Erholung der Pflanzen einer Parzelle, um die Pflanzen nicht zu schwächen, Erzeugung von Trampelmulch, um die Verdunstung zu reduzieren und das Bodenleben zu schützen, etc.) anpassen müssen.


Manfred
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Re: Wie funktioniert wissenschaftliches Arbeiten?

Beitrag von Manfred »

"You must always be willing to truly
consider evidence that contradicts
your beliefs, and admit the
possibility that you may be wrong.

Intelligence isn´t knowing everything.

It´s the ability to challenge
everything you know."

(Verfasser unbekannt)


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