Hospitalismus - Haut und Knochen

Moritz

Hospitalismus - Haut und Knochen

Beitrag von Moritz »

Viele kennen das Phänomen des Hospitalismus von Altenheimen, Krankenhäusern, Kinderheimen, aber auch aus der Tierhaltung: von Pferden (Weben oder Koppen), die als Großtiere in 9qm-Boxen gehalten werden (für einen Hund sind wohl 12qm Vorschrift), von Bären und anderen Tieren in Zoos oder Zirkuswagen:
zu wenig Bewegung, zu wenige Sinneseindrücke führen zur psychischen und sensoriellen Deprivation.
Isolationsfolter arbeitet nach dem gleichen Prinzip. Entzieht man dem Lebewesen Sinneseindrücke (Hören, Sehen, Riechen, Fühlen), wird es letztendlich zusammenbrechen, zuvor schon verhaltensauffällig.

Seit neun Tagen versorgen wir eine Ziege aus solcher Haltung.
Sie war seit 6 bis 8 Monaten an einer 65 cm langen Kette in einer Betonecke befestigt. Sie konnte sich hinlegen, aber nicht in der hinteren Körperhälfte kratzen wegen der kurzen Kette und wegen fehlender Hörner.
Seit mindestens 2 Monaten stand sie nur auf 3 Beinen (hinten links unbehandeltes Zwischenklauengeschwür).
Sie wurde gefüttert mit Schafpellets und muffigem Heu, das sie nicht fraß.
Das Heu wurde so im vorderen Bereich zur "Einstreu", hinten stand sie nur im Kot und Urin, hinzu kam eine 2 cm hohe Taubenkotschicht.
Alles, was sie sehen konnte, war Beton, was sie riechen konnte, war Taubenkot.
Hören konnte sie einen Hund, der in der gleichen Situation lebte.

Die Klauenballen aller 4 Beine zerbröseln wie Hüttenkäse.

Als wir auf sie aufmerksam wurden, hatte sie aufgehört zu fressen.

Der Körper fühlt sich an wie ein abgenagtes Gerippe (Fernsehaufnahmen: Sahelzone, Gerippe liegt bleich im Sand) mit einem Fell darüber.
Dort, wo sich normalerweise der Bauch befindet, hing ein Hautlappen; die Beine sind völlig entmuskelt, wo an der Hinterkeule normalerweise ein Muskelpaket ist, fühlt es sich an wie eine zweite Hungerkuhle.

Die Ziege zeigt eindeutig starke Anzeichen von Hospitalismus:
1) Sie beriecht alles, als habe sie ihre bisherige Geruchserinnerung verloren. Wobei sie besonderes Interesse eher an Kleidung hat als an Nahrung.
2) Sie macht korkenzieherähnliche Hals-Kopf-Bewegungen, wie sie für
Tollwut oder manche CAE-Formen typisch sind, so daß wir anfangs an eine virale zentralnervöse Erkrankung gedacht haben.

Anfangs haben wir sie zwangsgefüttert (kleinste Mengen Heu gestopft), um zu einer Vermehrung der vielleicht noch vorhandenen Pansenbakterien zu kommen.
Im Anhänger zum TA und eine Infusion (intravenös) geben lassen. Problem bei einem so mageren Tier: Auffinden der Vene. Möglicherweise hat er auch die Vene durchstochen und das Produkt so reingejagt.
Sein Hauptmerkmal bei der Diagnose war sowieso: sie habe keine Ohrmarken!
Für uns bei der Erstversorgung (Antibiotikum und Kortison gegen die starken Schmerzen) war ebenfalls das Hauptproblem: wohin stechen??
Wenn man unter der Haut nur Knochen spürt.
Natriumpropionat-Gaben mit geduldigem Heustopfen haben dazu geführt, daß sie heute wieder allein frißt. Zwangstränken mit lauwarmem Wasser.

Die Kotpillen haben sich von 4 mm Stärke und 8 mm Länge schon um ca 50% vergrößert.
Glücklicherweise waren ihre Leber- und Nierenwerte in Ordnung, Temperatur ebenfalls.
Das zeigt andererseits, wieviel ein Ziegenorganimus an Mangel aushält im Gegensatz zu Überfütterung.
Wie entzündet jedoch der ganze Darmtrakt ist, erkennt man daran, daß sie sich mit dem ganzen Körper an der Wand scheuert unmittelbar nach Nahrungsaufnahme. Typisches Schmerzzeichen.
Zu ihrer Lieblingsnahrung gehören vor allem Brombeerblätter.
Viele werden sich an die Ziege Nelly aus Südirland erinnern, über die das Gleiche (bevorzugte Brombeerblätter bei wahrscheinlicher Entzündung des Verdauungstrakts) berichtet wurde.

Vielleicht kann mancher einiges der Infos gebrauchen.

Gruß Moritz


Locura
Beiträge: 4653
Registriert: 31.05.2007, 10:01

Beitrag von Locura »

Gut, dass die Ziege ein neues Zuhause hat, wobei man den Zustand vorher ja wohl kaum so bezeichnen kann.

...und was ist mit dem armen Hund?


Moritz

Beitrag von Moritz »

a) Ziege und b) Hund:
Bei der Ziege hat sich der Kot schon stark verbessert. War er anfangs dünn, trocken und schrumpelig wie Haferkörner (zwar dunkel in der Farbe), ist er durch die Brombeerblätter inzwischen schwarz, auch feuchter und besser geformt.
Man merkt, wieviel besser der Transit durch den Dünndarm funktioniert und am Wiederkäuen, auch gierigem eigenständigen Fressen in kleineren Schüben kann man erkennen, daß es aufwärts geht.
Der Muskelaufbau wird sicher Monate brauchen.
Es ist unvorstellbar, daß sich ein solches Gerüst überhaupt auf den Beinen halten konnte und dabei noch so an ihrer Umwelt interessiert war und ist.
Die Leute wußten, daß wir uns um Ziegen kümmern, und haben uns dennoch so spät informiert.
Sie steht auch wieder auf 4 Beinen (setzt also voll auf), nur können wir medikamentös wegen der absoluten Magerkeit zunächst nicht antibiotisch weiterbehandeln. Wenigstens die ersten drei Tage Injektionen zu geben, war sehr belastend.
Entwurmt haben wir sie wegen ihres Zustandes auch durch "pour on".

Da man Schlund, jeden Hals-Wirbel, jedes Knöchelchen spüren kann, muß erst einmal aufgebaut werden.
Als großes Handicap erweist sich das Enthorntsein. Sie kann sich nicht mit den Hörnern kratzen, leckt dadurch öfter.
Nach den anfänglichen Magnesium- und Calciumgaben zittert sie auch nicht mehr.
Sie war auch nicht unterkühlt, hat aber dennoch eine Wärmelampe.

Der Pansen ist inzwischen als kleine hängende Beule (Größe einer offenen Männerhand) zu spüren - mit viel Phantasie.
Glücklicherweise haben wir im August ein hervorragendes Heu aus Südfrankreich kommen lassen.
Lecksteinkrümel muß ich ihr ins Maul "träufeln", weil sie das z.Z. nicht von allein nimmt.
Ganz wichtig, bisher unerwähnt, sind ihr Rindenstücke von Weidenästen (armdick), die sie selbst schält.
Dies - mit den Brombeerblättern (= mehrere Eimer täglich, Blätter liegen ja lose) - ist ihre eigentliche Schonkost, für Halter kranker Ziegen
ein wichtiger Hinweis.

Hund: es handelt sich um eine 3jährige, liebe Dobermann-Hündin, die auch Papiere hat. Die Kinder der Leute sind in eine Stadtwohnung gezogen und arbeiten ganztags. Sie konnten den Hund nicht mitnehmen.
Hier sind Dobermann-Hunde oft angstbesetzt durch Horrorfilme.
Sie werden gerne als Wachhunde gesucht (Rüden), dafür ist sie aber ungeeignet, weil so lieb. Sie ist wie alle Dobermann-Hunde sensibel, eher klein (Hündin).
Im Tierheim nicht unterzubringen wegen Überfüllung.
Sie wird gratis abgegeben, wenn sie jemand holen will, ich zahle den Sprit und die Impfungen (wobei keine Wartezeiten entstehen würden).

Unsere Versuche, sie über Tierschutz in D. zu vermitteln, sind bisher gescheitert. Wir würden sogar eine Vermittlungsprämie zahlen, um ihr zu helfen.
Wegen unserer Tier"konstellationen" können wir sie leider nicht selbst aufnehmen, was wir gerne täten.
Gruß Moritz


Locura
Beiträge: 4653
Registriert: 31.05.2007, 10:01

Beitrag von Locura »

Hm, ich würde sie evtl. nehmen...
Hast Du mehr Infos???


Moritz

Beitrag von Moritz »

Farbe: schwarz-loh
Ohren nicht kupiert, Rute kupiert.
Wurde allein gehalten.
Fing an, in der Wohnung ihre Notdurft zu verrichten, wenn zu lange allein gelassen; auch Sachen zu beschädigen, wenn sie 10 bis 12 Std. allein war.
Mit kleinen Hunden und Hündinnen (ebenso einem großen Rüden) ist sie verträglich (eigene Beobachtung), mit größeren Hündinnen wissen wir nicht.
Mo


Locura
Beiträge: 4653
Registriert: 31.05.2007, 10:01

Beitrag von Locura »

...ich erörte das gerade mit meiner besseren Hälfte und melde mich dann wieder.


SirQuickly

Beitrag von SirQuickly »

@Mo

Da stellen sich einem die Haare auf und der Adrenalinspiegel erreicht den oberen Bereich, als wäre das nicht schon schlimm genug habt Ihr anscheinend auch noch einen "kompetenten TA" gefunden.
Im Anhänger zum TA und eine Infusion (intravenös) geben lassen. Problem bei einem so mageren Tier: Auffinden der Vene. Möglicherweise hat er auch die Vene durchstochen und das Produkt so reingejagt.
Mein Tipp hierzu um vielleicht künftig im Konsens mit TA helfen zu können

- mit feinzahniger Schermaschine Bereich freilegen

- "Drosselrinne" vorsichtig mit Fingern ertasten

- wenn gefunden dann am "Venenwinkel" vorsichtig anstauen

- nun drückt sich eine Drosselvene nach außen wie ein Fahrradschlauch der sich füllt

- Nun zum Brustbein hin die Venenverweilkanüle vorsichtig setzen


Ich weiß, dass es manchen TAten nicht genehm ist, wenn man hier ein Interesse der Mithilfe an den Tag legt, doch mir ist die Ziege/Schaf was auch immer 1000 x wichtiger als Kompetenzgerangel o.ä.




Oftmals muss man länger (evtl. über Stunden ) eine Infusion verabreichen, um der jeweiligen Ziege/Schaf zu helfen.

Super dass Ihr es trotzdem geschafft habt #daumen_hoch*

Zum Handwerklichen Geschick des TA :-(

Beste Grüße
Ju


Locura
Beiträge: 4653
Registriert: 31.05.2007, 10:01

Beitrag von Locura »

@ Quickly:

Man kann sowohl NaCl- als auch niedrigprozentige Glucoselösungen als subcutane Infusionen verabreichen, wenn man die Applikationsstelle wechselt, so dass keine zu großen Flüssigkeitsdepots entstehen.
Dann kann man sich die Prokelei sparen.


SirQuickly

Beitrag von SirQuickly »

@Locura

Man kann vieles, nur eben jede Maßnahme zur seiner Zeit (Zeitfaktor) und an Ihrem Ort

Gruß
Ju


Locura
Beiträge: 4653
Registriert: 31.05.2007, 10:01

Beitrag von Locura »

Eben deswegen mein Kommentar! :D


Antworten